Wenn es Tage gibt, an denen nichts stimmt, an denen ihre Haare anscheinend über Nacht zu Stroh mutieren, während ihrem Schlaf irgend ein fieser Bösewicht mindestens fünfzehn Kilo auf ihren Hüften platziert und sich dann denkt, wenn er sowieso gerade dabei ist, auch gleich dreißig Jahre auf Gesicht und Schultern zu legen, dann gibt es glücklicherweise immer genauso die anderen Tage. Die richtig Guten.
Und für Lara ist heute definitiv ein bombastischer Tag! Ein Tag, der die gemeinen Alltags-niederschläge ausradiert – in ihrem Fall ausgelöst von einer simplen Kleinigkeit! Nämlich diesem neuen Paar Turnschuhe.
Nachdem zwei, fünf, acht T-Shirts hier und drei Kleider, vier Jeans und zwei Shorts dort landen, strandet sie in Unterwäsche. An ihren Füßen diese wunderbaren neuen Sneakers.
Ganz wundervoll, in schlichtem Weiß, mit helltürkisenen Schnürsenkeln und Pastell schimmernden Glitzer an der Ferse. Die Highlights: sie passen zu absolut jedem Outfit und sind obendrein super bequem.
Seit gut einer Stunde betreibt sie nun dieses Beäugungstänzchen vor ihrem Spiegel.
Sie schweift von ihrem neuen Superschuh ab und driftet, geführt von der Funkelei, gedanklich zu ihren ersten Lackschuhen. Flashbacks der Schuhart.
Laras Gedankengalerie kurbelt geschmeidig und macht bei einem dreißig Jahre absolut jungen Bild Halt. Ein Bild von ihr. Sie ist ungefähr fünf und schwarze Lackschuhe zieren die kleinen Füße. Selbstverständlich passend zum Bienchenkostüm – etwas ganz Besonderes.
Sie saugt ihre Unterlippe in den Mund, bevor dieser mit einem kecken Grinsen gewinnt.
„Da warst du ein richtiges Girlie!“, schäkert sie mit ihrem Spiegelbild und meint damit alle Klischees, die ihr in den Sinn kommen.
Die Lackschuhe waren aber auch süß, klar!
Dennoch scheint es Lara etwas seltsam, dass sie sich heute über die kleine, dezente Glitzerfläche dermaßen freut.
Sie denkt zurück und zieht ihre Vergleiche. Sie und ihre schwarzen Lackschuhe. Der coole Teenager ab dreizehn. Nicht cool im Sinne von beliebt – eher introvertiert und unauffällig. Am Zähne ausbeißen die Schüchternheit wie Coolness aussehen zu lassen. Daraus ergab sich dann eigentlich nur eine gewisse, womöglich trainierte Haltung. Lara nennt sie liebevoll die ich-bin-viel-zu-cool-für-Boybands-Haltung. Nur um sich dann abends in das Kissen zu werfen – direkt in das Gesicht von einem der aufgedruckten Jungs. Das Bild der Bettwäsche weckt ihre Gelüste auf irgendeinen Song, der zu theatralischen Bewegungen und zum Niederknien einlädt.
Heute wäre sie wahrscheinlich so ein Anti-Mainstream-Teenie. Frei von der Erkenntnis, wie gängig die Nutzung des Wortes an sich ist.
Mittlerweile liegt sie auf ihrem Bett. Die Beine in die Höhe gestreckt und ihre wippenden Füße betrachtend. Das ist es. Früher wäre sie so gern gewesen wie jetzt!
Eines weiß sie: dieser Tag wird grandios. Ein Tag, an dem sie sich und alles einfach toll findet! Das muss mal wieder sein und das wird sie auskosten!
Heute genießt sie es einfach alles zu sein. Heute liebt sie Glitzer, Pastell, Makeup, Haarutensilien, Schaumbäder, Herzensfilme und -bücher. Vor allem genießt sie es einfach Frau zu sein. Genau wie ihre Geschmacksrichtungen kann sie ihre Gefühle und ihr Aussehen beliebig zurechtlegen und es interessiert sie kein Stück, dass sie nicht den EINEN Style hat. Jeans, T-Shirt, Sneakers, al natura ohne Makeup. Heels, Röhrernjeans, Blusentop, Party-Makeup oder Stiftrock, Riemchenheels, Dutt, busylookin‘. Fliederfarbener Flatterrock, Boots und weiche Riesenlocken.
Heute Abend gönnt sie sich dann noch eine Liebeskomödie mit Fußbad und danach einen Tim Burton oder vielleicht einen actionreichen Denzel!
Heute existiert keine Madigkeit!
Dieser Tag verlangt nach Pink und Rot oder Blau und Schwarz! Mit erhobenem Finger stellt sie sich vor den Spiegel, runzelt ihre Stirn und spitzt pikiert die Lippen: „Aber Lara! Das ist ein Fauxpas! Diese Farben trägt man nicht zusammen!“. Sie lacht und wirft hinterher: „Ja und? Scheiß drauf!“ Die Modepolizei darf gerne an ihrer Tür kratzen!
Sie liebt alle ihre Kleider. Alles. Von A bis Z. Jede Farbe. Jedes Muster. Sie liebt alle ihre Lieder und alles, was ihr noch einfällt!
Warum, um Himmels Willen, soll ihr nur das eine oder andere gefallen? Um was genau zur Show zu stellen? Das Innenleben? Dann müsste sie jeden Tag T-Shirt an den Füßen, Jeans auf dem Kopf, Rock am Hals, Schal an der Brust und schlimmstenfalls die Handtasche als Höschen tragen. Der Mode wegen? Wer kam nur jemals auf so einen Quatsch? Im Trend sein, anti-Trend sein, mit den Fischen oder entgegengesetzt – wen interessiert‘s? Der Trend, dem sie am liebsten folgt ist der du-darfst-alles-was-dir-gefällt-Trend! Ein klasse Trend!
Als Teenager hatte sie vorsichtshalber zusätzlich cool dreingeschaut. Ob sie das üben musste? Sie erinnert sich nicht daran vorm Spiegel geprobt zu haben, aber sie war sich damals sehr sicher, dass ihre Blicke total coolen Freilauf hatten. Vielleicht wirkte das eher irre?
Lara lacht bei der bildlichen Vorstellung.
Nun und jetzt? Jetzt ist sie auch nicht offiziell cooler – ehrlich, sie hat gerade getestet, ob ihre neuen Turnschuhe zur Unterwäsche passen und in Gedanken überlegt sie bereits, wie sie ihren Mädels gleich Schuhgasmen via Whatsapp runterleiert! Nein, cool ist sicher anders.
Sie posed die unnatürlichsten Haltungen, checkt, wie sie beim Joggen aussehen würde (ja, so richtig mit Stirnabwischen und Keuchen), kniet zu Boybandliedern und hüpft zu Spaßliedern.
Ernst geht auch morgen wieder!
Es dauerte ziemlich lange diesen Punkt zu erreichen. Der Punkt an dem sie nicht mehr darüber nachdenkt, wer sie wie findet. Warum hat sie sich früher überhaupt ihr Hirn darüber zermartert zu welcher Sorte Mensch sie gehört? Die schönen Dinge, die zur Meinungsbildung anderer einladen, gedanklich begraben. Und dieses ewige Festlegen! Warum hat man ihr immer das Gefühl gegeben sich festlegen zu müssen? Wenn sie Punk hören will, hört sie Punk. Wenn sie Pop hören mag, hört sie Pop und – „Oh wie perfekt!“.
Sie springt zur Stereoanlage und dreht auf.
„You better look down
Cause uhh, I know you see ‚em (say what?)
I know you see ‚em (say what?)
I know you see ‚em
I paid – a thousand for the jeans,
I paid 200 for the shoes
And uhh, fuck a shirt, I’ma rock these tattoos!“
Singend landet Lara wieder vor ihrem Spiegel. Blickkontakt zu den neuen Schuhen. Diebisch freut sie sich, nicht mehr dieser Teenager zu sein – oder, dass ihr Teenager jetzt eben mitspielen darf, ohne dafür zu cool zu sein.
„I was in my house (in my house)
Dancin‘ in the mirror
Straight thinkin‘ bout gettin‘ out
And how I’m bout to kill ‘em
When you know you got a pair that ain’t nobody got (body got)
You can’t hold ‚em back homie, you gotta rock (you gotta rock)“
„Unglaublich wie niedlich ihr seid!“
(Lied: Stepped on my J’z von Nelly, Jermaine Dupri & Ciara)