Schlafraubendes Gerümpel

Das war die dritte Nacht infolge. Ich fühle mich zermürbt und ausgemerzt. Meine Glieder sind ohne Kraft. Mein Nacken ist verspannt, mein Rücken steif, meine Finger verkrampft und mein Kopf wiegt wie ein Fels. Es war der kleinste Schlaf seit Jahren.
Diese Nacht hat den letzten Widerstand ausgelaugt. Die erholsamsten Stunden des Tages ähneln mehr und mehr einem Kampf.
Ich sollte wirklich endlich ausmisten! Wenn ich es weiter vor mir herschiebe, wird es mit jedem Tag und jeder Nacht schlimmer.
Während ich mich noch selbst rüge, meine Schläfen massiere und meinen Nacken dehne, verschwinden die hilfreichen Gedanken bereits wieder in ihrer Höhle. Binnen weniger Sekunden versinke ich in allem Erdenklichen. Ideen, Aufgaben, Pflichten und Bedürfnisse bilden eine Schlange und drängeln erbarmungslos. Verdächtig bereit, die Aussortierung erneut zu vertagen.
Ein Versuch die Ordnung auf Nacht Nummer 4 abzuwälzen.
Die nächste Nacht.
Noch eine Nacht.
Wieder ein Albtraum, der mit mir in den Ring steigt.
Ich greife nach einem beliebigen Buch in meiner Reichweite. Es spielt keine Rolle welches ich nehme. Fast jedes ist mit einem Lesezeichen versehen. Keines habe ich zu Ende gelesen. Allerdings nimmt es mir für einige Minuten all diese Gedanken und das wird mich entlasten.
Kind, du musst dich davon trennen. Sonst explodierst du, erinnere ich mich an die Worte meiner Mutter, sorgenvoll doch mahnend.
Sonst explodierst du. Schrecklich! Diese Worte haben dieselbe Bedeutung wie das Monster unter dem Bett, der Nachtkrabb oder der böse Wolf.
Ich streiche über die aktuelle Seite des Buches und bleibe an der Seitenzahl hängen. Seite zweihundertsiebzig. Das Lesezeichen steckt zwischen Seite einhundertvierundneunzig und einhundertfünfundneunzig.
Da ich keinen blassen Schimmer habe, welches Buch ich in der Hand halte und was ich gerade eigentlich gelesen habe, klappe ich das Buch zu und mustere das Cover – Ahja, natürlich. Seufzend lege ich es zur Seite.
„Ich habe wohl keine Wahl mehr.“, stöhne ich erschöpft.
Meine Schwester stellte mir vor einigen Jahren – elf Jahren, um genau zu sein – die Frage, ob ich Angst davor habe. Angst vor dem Ausmisten und vor dem Loslassen.
Damals fiel es mir schwer darauf zu antworten. Heute gebe ich zu, dass ein Hauch Angst durch meinen Körper huscht, wenn ich daran denke was ich hergebe.
Du gibst den Sekunden viel zu viel Bedeutung, sagte sie immerzu. Genau wie unsere Mutter. Alle beide pflegten dies zu sagen. Tatsächlich ist mehr als genug Wahres daran. Ich möchte nichts vermissen und am liebsten würde ich jede Sekunde auf Ewig behalten. Schließlich weiß ich doch was ich loslasse und dann wird es mir fehlen. Das ist selbstverständlich, oder nicht? Ich werde es wissen und bereuen.
Meine Angst liegt nicht im Akt, sondern in der Entscheidung. Ich weiß wie ich es loswerde. Das ist keine große Sache. Aber was ist, wenn ich einen bestimmt Moment brauche? Was, wenn ich ihn nicht mehr aufrufen kann? Weil ich mich dazu entschlossen habe, ihn nicht mehr gebrauchen zu können. Weil ich ihn mit dem Vermerk der Nutzlosigkeit versehen habe.
Und das Schlimmste ist: was, wenn ich versehentlich den Falschen erwische? Ja, das macht mir Angst. Mehr Angst, als die Gefahr zu explodieren.
Außerdem erinnere mich so wahnsinnig gern. Mit der Zeit lernte ich sogar zu verschlucken das Erinnern als eine meiner Freizeitaktivitäten zu nennen. Obwohl ich es gerne heraus posaunt hätte.
Scham war nicht der Grund, warum ich es irgendwann für mich behielt. Es waren die Reaktionen, welche mich lehrten. Diejenigen, die es als charmant abgetan hatten, kann ich bis heute an einer Hand abzählen. Der Großteil fand mich, gelinde ausgedrückt, ziemlich seltsam. Das wiederum sorgte für unangenehme Situationen und noch unangenehmere Rechtfertigungen meinerseits. Deswegen ließ ich es einfach bleiben. Warum sollte jemand etwas Schönes in etwas Anstrengendes verwandeln? Da behalte ich es doch lieber für mich und bleibe glücklich damit.
Ich liebe es mich zu erinnern, zu schwelgen und die vergangenen Sekunden, Minuten sowie volle Stunden zu genießen. Ich fühle, rieche und schmecke die alte Zeit. Sie gehören zusammen und allesamt gehören sie mir.
Mit Ausnahme der platzenden Augenblicke, welche sich mittlerweile nächtlich in die ersten Reihen setzen. Das ist das Problem und es zwängt mich in eine Zwickmühle.
Vor dem Schlafengehen, da erinnere ich mich zum Beispiel an diesen Supermarkt. Die lächelnde Verkäuferin. Die genervte Verkäuferin. Der kleine Bengel, seine frechen Sommersprossen und die viel zu große Zahnlücke. Sein Vater ließ ihn an der Kasse eine Süßigkeit wählen. Sicherlich war es nicht einfach gewesen die regulären Süßwarenregale mit leeren Händen zu verlassen. Wohl wissend, welche Hürde es noch zu überwinden galt. Der Bengel lachte und ich erinnere mich, dass ich dachte, er bestehe beinahe nur aus dieser Lücke.
Dann macht die Nacht ihren Zug.
Unnachgiebig sucht sie nach einer Erinnerung, in der ich das letzte Mal so habe lachen können. Die Nacht wandelt alles um. Es nagt an mir und verletzt mich.
Bevor eine faire Diskussion stattfinden kann, bei der ich auch zu Wort komme, springt sie weiter. Dann erinnere mich an diesen Streit mitten auf der Straße. Der Streit zwischen dem jungen Pärchen – ob sie sich wohl wieder zusammengerauft haben? Wahrscheinlich nicht, da sind wirklich fiese Worte gefallen. Ich habe nicht eins davon vergessen. Genauso wenig den dampfenden Asphalt, das hupende Auto, die Hummel im Sturzflug, die drückende Luft oder mein blumiges Sommerkleid. Da war auch noch der propere Spaziergänger mit dem lustig, tollenden Hund. Außerdem noch der Quadratmeter Gänseblümchen in dem kahlen Vorgarten, an dem ich vorbeigelaufen bin.
Ich sehe es noch vor mir. All diese Dinge; heute, gestern, vor zwei Jahren oder vor zwölf Jahren. An all den verschieden Orten. Sie sind ein Teil von mir und ich rücke sie nur ungern raus.
Ich weiß es wird zu voll. Mittlerweile wandern sie auch durch den Tag, beanspruchen seinen Speicher und verdrängen mich. Mich und neue Erinnerungen.
Gerümpel, nannte meine Mutter es unter anderem.
Und die Nacht ist ebenfalls ein Miesmacher!
Alsbald ich Schuldzuweisungen verteile, kehrt die klare Realität zurück und ich finde mich an meinem Telefon wieder. Verdutzt starre ich auf die bereits gewählte Nummer. Ehe ich wieder auflegen kann, raunt die Stimme meiner Schwester durch die Leitung.
„Ich kann heute Abend bei dir sein.“, sagt sie.
Ich kauere mich in den weichen, blauen Sessel neben der Couch. Mir war niemals so klar wie jetzt, dass mein Gerümpel die Kontrolle gewinnt. Bevor ich mich endgültig verlieren würde, machte mein Körper sich selbstständig und wagte seinen letzten Versuch.
Es ist soweit und ich durchforste meine Bilder.
Ich erinnere mich an die Frau am Flusssteg. An diesem Tag war es windig, geradezu stürmisch und ihre weiß gesträhnten Haare wirbelten in alle Richtungen. Ständig verdeckten sie ihr Gesicht, doch es störte sie keineswegs. Sie wirkte starr, gänzlich in Gedanken versunken. Ich schätze, sie erinnerte sich.
Ich wiege mich im Duft des alten Tages, versetze mich in Gedanken zurück und mit halb geschlossenen Lidern blinzele ich der Helligkeit entgegen. Der Tag fühlt sich jetzt greller an, als er in Wirklichkeit war. Ich würde zu gerne wissen, woran sie sich erinnerte. Sie dreht sich um und sieht mich direkt an.
„Ich befreie mich von meinem Gerümpel, Liebes.“
Daraufhin verschwindet sie und in mir wächst die Panik. Ich bin mir sicher sie hatte ganz wundervolles Gerümpel.
Das nächste Bild zeigt meine Tante. Sie trug einen erdfarbenen Mantel und ihre Augen glänzten wässrig. Ich beobachte sie beim Packen. Es sind die Koffer meiner Schwester und mir.
Das Klopfen an der Tür bringt mich zurück. Völlig zerrüttet öffne ich sie und meine Schwester grinst mich schief an.
„Ich hatte den Verdacht es sei wichtig. Du musst aufräumen?“
„Ich weiß nicht was.“
„Das weißt du doch nie“, lächelt meine Schwester und küsst meine Wange. „Am besten beginnst du mit den Erinnerungen, welche dir den Schlaf rauben. Fang zunächst mit den kleineren Übeln an und arbeite dich dann zu den Albträumen vor!“
Ich traue mich nicht zuzugeben, dass ich die Albträume kaum noch von den echten Erinnerungen unterscheiden kann. Es ist mir peinlich, dass ich es habe soweit kommen lassen. Meiner Schwester würde das nie passieren.
Wir gehen in mein Schlafzimmer und ich lege mich in mein Bett. Meine Schwester lässt den Rollladen runter und setzt sich neben mich.
„Legen wir los!“, höre ich sie noch sagen, bevor ich mich von der Welt trenne und in meine Gedanken abtauche.
Noch schwimme ich an ihrer Oberfläche, aber ich spüre, dass ich mein Ziel bald erreiche. Auch wenn es lange her ist, weiß ich, wie das Überwinden der Hürde funktioniert: Anfangs stemme ich mich gegen den drückenden Strom meines eigenen Widerwillens. Wenn ich meinen Widerwillen gebrochen habe, erreiche ich den Bunker meines Gerümpels.
Ein kleines Stück noch.
Selbst mein gedanklicher Körper bricht in Schweiß aus und ich erreiche den Ort der Aufbewahrung nahezu durchnässt.
Zum ersten Mal begreife ich, was mit Gerümpel gemeint ist: nach all den Jahren herrscht hier das absolute Chaos. Aus den winzigsten Nischen quellen riesige Brocken. Hauchdünne Fäden, die eigentlich in den winzigen Nischen angesammelt werden, umwickeln die Brocken. Sie stehen bereits kurz vor dem Zerbersten.
Das sind sie. Wie konnte ich es soweit kommen lassen? Ich müsste es besser wissen.
Im Geiste berühre ich meine Bilder. Sie sind grobe und zarte Streifen, graviert in die undefinierbare Substanz der Fäden. Es ist eine scheinbar endlose Strichliste.
„Nicht die Prägenden. Nur die Schlafraubenden und die Ängste, die sie haben entstehen lassen.“, spüre ich die Worte meiner Schwester.
Ich dachte, ich würde die Albträume nie erkennen. Ich hatte Sorge, dass ich mich falsch entscheide. Dabei ist es lächerlich einfach. Ich erkenne jeden Albtraum und werde ihn ausmisten.
Ich entdecke einen einzelnen, losen Faden und nehme ihn in meine Hand. Er macht den Anfang. Vorsichtig lasse ich meine Fingerspitzen über seine Liste gleiten. In seiner Mitte finde ich, wonach ich suche. Ein wunderschöner, weicher Streifen. Die Berührung löst sofort die Erinnerung aus.
Er zeigt mir die Frau am Ufer. Mir wird warm. Ich möchte lächeln, ihr winken – ich möchte ihre Augenblicke so gerne kennen.
„Du brauchst sie nicht alle ansehen. Du kennst sie.“, wispert meine Schwester erneut.
Ich taste nach dem nächsten Streifen. Er ist ruppig und piekst meine Finger. Das ist der Albtraum, den mein Geist aus der Erinnerung geformt hat. Einer der Albträume, die meinen Bunker vollstopfen. Umso mehr Bilder ich sammele, desto mehr Albträume nisten sich ein.
Ich wische den ruppigen Streifen ab und der Faden verliert an Länge. Ich verharre und erwarte das Gefühl des Verlustes. Nichts. Sie verschwindet nicht. Sie bleibt mir erhalten.
Ich streife einen nach dem anderen ab. Erst die Albträume. All die Plagen. Sogleich werde ich übermutig und kümmere mich um die Winzigkeiten.
Ich schaffe neuen Platz. Die Brocken verlieren an Masse und nach und nach gewinnt meine Aufbewahrungsstätte an Freiheit.
Ich kehre zurück in die Welt und zu mir.
„Und? Vermisst du sie?“, fragt meine Schwester, doch ich konnte ihr nicht mehr antworten.
Ich bin sofort eingeschlafen.

 

2 comments on “Schlafraubendes Gerümpel

  1. Hallo Chèle,
    echt super ich glaube ich sollte auch mal mein altes Gerümpel loswerden.
    Danke für den Tip

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